Natlaya Paslavska

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Natalya Paslavska am Marienplatz

„Manchmal gibt es im Leben Phasen, wenn man denkt, dass es in dieser Welt keine Gerechtigkeit gäbe und nie geben wird. Dann kommen aber die Freunde und zeigen, dass alles nicht so schlimm ist.“

Dr. Natalya Paslavska ist Rechtswissenschaftlerin in der Ukraine, mit dem Möller Stipendium der DAAD-Stiftung, konnte Sie drei Monate nach Deutschland und sich dem Krieg in der Ukraine für eine kurze Zeit entziehen.

Im folgenden Bericht schildert sie ihre Erlebnisse und Erfahrungen:

Gegenwärtige extreme Lebensbedingungen in der Ukraine zwingen den Staat, in allen staatlichen Bereichen effektiv Reformen durchzuführen, um nach dem Kriegsende so schnell wie möglich zum normalen Leben zurückzukehren und den EU-Beitritt der Ukraine zu beschleunigen. Unter diesen Umständen ist es sehr wichtig, rechtshistorische Erfahrung entwickelter europäischer Staaten kennenzulernen und gelegentlich zu übernehmen, um das ukrainische Rechtssystem so schnell wie möglich den nationalen Rechtssystemen der EU-Staaten anzunähern.

Nicht zuletzt aus diesem Grund widmet sich mein Forschungsprojekt dem Thema „Geschichte und Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland als mögliches Modell für die Ukraine“.

Angefangen habe ich im Projekt mit der Analyse der Vorgeschichte der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Denn die meisten Rechtshistoriker sind sich dessen einig, dass die Geschichte der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht mit dem Badischen Gesetz vom 5. Oktober 1863 „die Organisation der inneren Verwaltung betreffend“ beginnt, sondern auf die frühe Neuzeit zurückgeht, die historisch mit Prozessen der „Territorialisierung, Bürokratisierung und Wachstum des Verwaltungsapparats zusammenhing“.

Unter deutschen Forschern gibt es eine breite und eine enge Sicht auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit und ihre Anfänge in Deutschland. So ist Martin Sellmann gegen eine enge Definition der Verwaltungsgerichtsbarkeit seiner Kollegen und deren These vom Beginn der modernen Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland mit der Schaffung eines speziellen Gerichts, das über Verwaltungs- und Rechtsfragen entscheidet.

Paslavska Gruppenfoto 1
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Im musikalischen Rahmen

Der Forscher ist der Ansicht, dass die Verfahren des Reichskammergerichts und des Reichshofrats bei Streitigkeiten zwischen Landesherren und ihren Untertanen Vorläufer der modernen Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland waren, obwohl die Höchstgerichtsbarkeit damals nicht ausreichend untersucht wurde und das Heilige Römische Reich deutscher Nation in der nationalen Geschichtsforschung keine besondere Beachtung fand. Unter Berücksichtigung der Fälle, mit denen diese Gerichte befasst waren, kommt er zu dem Schluss, dass sie nicht nur in Fällen von Verwaltungsstreitigkeiten entschieden, sondern auch die Verwaltungstätigkeit in den Gebieten des Alten Reiches kontrollierten.

Weitere Forschungen widmen sich der institutionellen Entwicklung auf Reichsebene, die 1495 einsetzte und als Folge der Auseinandersetzungen zwischen dem Kaiser und den Reichstagsständen über die Schaffung der Reichsverfassung gesehen wurde. Sie haben gezeigt, dass Institutionen wie das Reichskammergericht und der Reichshofrat die Werte und Normen der frühneuzeitlichen Gesellschaft verfestigten, was sich maßgeblich auf die Konfliktlösung und Stabilität im Alten Reich auswirkte. Interessant kommt es in diesem Zusammenhang vor, die Bemühungen der Forscher bei dem Thema Proteste und Konflikte, eine spezifisch deutsche Tradition des Widerstands und des Widerstandsrechts zu identifizieren, die sich schließlich im Deutschen Bauernkrieg und den nachfolgenden Bauern- und Bürgeraufständen niederschlug. Diese These könnte man durch einen Vergleich mit ukrainischen Bauernkriegen 1648–1652 verifizieren oder eher zurückweisen.

Gleichzeitig lassen sich viele Parallelen bei den Argumenten pro und contra von deutschen und französischen Rechtshistorikern nachweisen. Abgesehen von spezifischen historischen und rechtlichen Prozessen stehen verschiedene Länder manchmal vor ähnlichen politischen Herausforderungen, die unabhängig voneinander, aber mit fast identischen Argumenten diskutiert werden. Solche nationalen Debatten als Reaktion auf gemeinsame Herausforderungen führen oft zu sehr ähnlichen Problemlösungen. Dieser Grundsatz der Gewaltenteilung wurde übrigens im ukrainischen Rechtsdenken unabhängig entwickelt. Hier sei auf die Verfassung von Pylyp Orlyk (1710) hingewiesen, die auch für die Gewaltenteilung plädierte.

Paslavska Galerie
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Im Franz Marc Museum in München

Die Analyse des geschichtlichen Hintergrunds der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit ergibt folgenden Schluss: die Prototypen der Verwaltungsgerichte in Deutschland schufen zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Grundlagen für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Erst mit dem Verzicht auf die absolute Monarchie und der „Hinwendung zu einer Staats- und Regierungsform, die vom Grundsatz der Gewaltenteilung geprägt war“ (E. Hien) kann man von der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland sprechen. Das drückte sich im Bestreben des liberalen Bürgertums dem Staat nur berechtigten Eingriff in ihre Freiheitsrechte zu erlauben.

Das konnte nur dann geschehen, wenn eine Instanz von der Exekutive unabhängig wäre und das Befugnis hätte, die Verletzungen des Rechts festzustellen und sie zu korrigieren. Das wurde mit § 182 der Paulskirchenverfassung von 1849 erreicht: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.“ Wichtig ist hier zu betonen, dass 1863 nicht das erste Verwaltungsgericht im Großherzogtum Baden entstand, wo es noch kein Deutsches Reich gab. Diese gebrochene zeitliche Existenz der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit könnte für die Ukraine ein Beispiel liefern, wie man in absehbarer Zukunft die Verwaltungsgerichtsbarkeit auf besetzten ukrainischen Territorien wiederherstellen könnte.

Sehr interessant ist in dieser Hinsicht die Frage nach der Neugründung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Besatzungszonen Deutschlands nach 1945. Ich habe die Entwicklungen in der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszone analysiert unter dem Standpunkt, wie und in welchem Umfang diese Erfahrung in Zukunft in der Ukraine übernommen werden könnte.

Die Verwaltungsgerichtsbarkeit der unabhängigen Ukraine steckt noch in den Kinderschuhen. Niemand bezweifelt ihre dringende Notwendigkeit. Für eine rasche und schrittweise Entwicklung lohnt es sich, die Erfahrungen der entwickelten europäischen Demokratien zu nutzen, insbesondere Deutschlands, das nicht nur über eine lange Erfahrung mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit verfügt, sondern auch in der Lage war, die Verwaltungsgerichtsbarkeit in kurzer Zeit nach der Herrschaft des totalitären Regimes und dessen Niederlage im Zweiten Weltkrieg wiederherzustellen.

Paslavska Burgbesichtigung
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Burgbesichtigungen in München

Auch die Ukraine befindet sich im Kriegszustand gegen den russischen Aggressor, in einem für das Land äußerst schwierigen und zerstörerischen Prozess. Der Sieg wird jedoch bald errungen werden, und dann wird die Frage nach der weiteren Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit wieder dringlich entstehen.

Genauso aufschlussreich ist die durchgeführte Analyse der „Verwaltungsgerichtsbarkeit“ im national-sozialistischen Deutschland und in der DDR . Man kann viele Parallelen dazwischen und der durch Russland eingeführten „Verwaltungsgerichtsbarkeit“, in den von Russen besetzten, ukrainischen Gebieten aufstellen. Die deutsche Erfahrung könnte bei der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit auf befreiten Territorien behilflich sein.

Von besonderem Interesse ist die aktuelle Struktur der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik. Wie bereits erwähnt, war sie am Anfang ziemlich zersplittert – zunächst in verschiedenen Ländern und dann in verschiedenen Besatzungszonen. Abgesehen davon hat man es geschafft, diese Zersplitterung mit dem der Verwaltungsgerichtsordnung von 1960 zu beseitigen. Man verdankt dem Grundgesetz zwei grundlegende Bestimmungen für die Verwaltungsgerichtsbarkeit der Bundesrepublik. Zum einen besagt Art. 19 Abs. 4 GG, dass jeder der durch die öffentliche Gewalt in einem Recht verletzt wird, gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann. Zum anderen steht im Art. 1 3 GG, dass die Grundrechte unmittelbare Bindungswirkung für die Legislative, Exekutive und Judikative haben. Diese Tatsache wird in einem Zitat von F. Werner wiedergegeben: Verwaltungsrecht ist konkretisiertes Verfassungsrecht“.

Paslavska Bibliothek Copyright Fau D. Hartfiel B
FAU D. Hartfiel

Blick in die Bibliothek des Juridicums der FAU Erlangen-Nürnberg

Die Entwicklung der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit von einem einstufigen zu einem dreistufigen zeugt von der Zunahme der Bedeutung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland. Wie bekannt hat die Ukraine auch ein dreistufiges Modell, das jedoch nach anderen Prinzipien aufgebaut ist. Die aktuelle Kritik an der Notwendigkeit von drei Ebenen in der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit könnte auch für ukrainische Experten nützlich sein.

Trotz des Krieges versucht die Ukraine schon jetzt die Voraussetzungen für den zukünftigen Anschluss an die EU zu schaffen. Dass betrifft besonders das ukrainische Rechtssystem und u.a. die ukrainische Verwaltungsgerichtsbarkeit. Es wäre wichtig, schon jetzt am Beispiel Deutschlands die Beziehungen zwischen dem Bundesverwaltungsgericht einerseits und dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH zu analysieren, insbesondere in Fragen vom Wirtschaftsverwaltungsrecht, Planungsrecht, Umweltrecht etc.

Wichtig aus ukrainischer Perspektive ist auch die Frage nach der Abgrenzung von Verwaltungs- und Finanzkompetenzen, z.B. die Frage der Streitbeilegung zwischen verfassungsmäßigen Staatsorganen, die in der Ukraine immer noch von Verwaltungsgerichten durchgeführt wird. Auch die Existenz von Sondergerichtsbarkeiten innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland verdient besondere Aufmerksamkeit. Zum Beispiel die Sozial- und Finanzgerichte. Es wäre logisch, diese Erfahrungen in der Ukraine im Rahmen der Justizreform anzuwenden, um die Belastung der Verwaltungsgerichte zu verringern. Ein weiterer Grund könnte sein, das Personal der Verwaltungsrichter zu erneuern und neue Berufsrichter einzustellen. Diese und andere Thesen bestätigen nur, dass die positiven Erfahrungen Deutschlands für die Ukraine äußerst wichtig sind.

Das Stipendium der DAAD-Stiftung erlaubte es mir, die schlimmsten Zeiten und Umstände des Krieges in einer sicheren Atmosphäre zu verbringen. Inzwischen habe ich mich entschieden, in die Ukraine zurückzukehren und meine Tätigkeit an der Universität Lwiw fortzusetzen. So kann ich die in Deutschland neu erworbenen Kenntnisse an meine Studierenden und Fachkolleg:innen weiterleiten. Ich habe neue Kontakte mit Fachkolleginnen und Kollegen an deutschen Universitäten geknüpft, was mir helfen wird, strittige Forschungsfragen mit Ihnen zu diskutieren.

Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ist die drittgrößte Uni in Bayern. Sie hat eine starke Juristische Fakultät. Ich hatte das Glück unter der Leitung von Prof. Dr. Bernd Mertens zu forschen. Er schaffte sofort alle Bedingungen, um mich in sein Team zu integrieren, einen Arbeitsplatz zu bekommen und mich nicht isoliert zu fühlen. Ich konnte meine Arbeitszeit im Büro und zu Hause (in Bamberg) selbständig organisieren. Meine Arbeitskollegen waren sehr freundlich und hilfsbereit. Sie zeigten mir gleich, wo man zu Mittag essen, einen guten Kaffee trinken oder was unbedingt besuchen kann.

Ich habe mich mit dem deutschen Alltag vertraut gemacht und mich davon überzeugt, dass es auch in Deutschland viele Probleme gibt, u.a. niedrige Löhne, Mangel an Lehrern etc. Aber ich habe auch gesehen, wie dynamisch solche Probleme behandelt und gelöst werden. Mich beunruhigt die Stärkung der Positionen der AfD-Partei. Das wäre ein Schritt zurück in der deutschen Geschichte.

Zahlreiche Kontakte mit meinen deutschen Freunden, die ich schon früher kannte und die ich neu kennengelernt hatte, haben mir geholfen, mich mit der deutschen Kultur, dem Kino, Theater, Essen etc. vertraut zu machen. Ich habe auch einige Stereotypen abgebaut, z.B., dass die Deutschen kein Gefühl für Humor haben, dass sie zu direkt sind. Die Deutschen sind genau so unterschiedlich, wie die Ukrainer.

Meine Nachbarn waren jederzeit bereit, mir zu helfen. Meine „alten“ Freunde in Bamberg – Frau Prof. Dr. Gabrielle Knappe und Herr Dr. Andreas Weihe gaben sich sehr viel Mühe, um mich zu unterstützen. Zusammen mit anderen ukrainischen Bekannten haben sie und zu zahlreichen kulturellen Ereignissen eingeladen – in Nürnberg, in Bamberg etc. Wir haben sogar einen Ausflug nach Italien gemacht. Bei Ihnen zu Hause habe ich gelernt, wie man die besten deutschen Torten und Kuchen backt.

Den stärksten Eindruck habe ich vom Besuch des Memoriums Nürnberger Prozesse bekommen. Das füllte mich mit der Hoffnung, dass jedes Verbrechen gegen die Menschheit früher oder später bestraft wird und dass es doch Gerechtigkeit in der Welt gibt. Es ist wichtig, in Deutschland Deutsch sprechen zu können. Jede Sprache wird hier akzeptiert, aber man merkt, dass es den Deutschen gefällt, wenn man gut Deutsch spricht. Ich danke meiner Mutter, die mir Deutschkenntnisse beigebracht hat. Bei der wissenschaftlichen Arbeit waren sie auch sehr wichtig.

Ich habe viele und verschiedene Kirchen in Deutschland besucht. Es hat mich auch angenehm überrascht, dass verschiedene Konfessionen aktiv zusammenarbeiten, dass man einen Gottesdienst mit einer Lesung, einem Konzert kombiniert. Sehr oft geriet ich in lustige Situationen, denn manchmal versteht man nicht sofort, wonach man gefragt wird, regelmäßig kauft man etwas Falsches beim Essen. Am Anfang fühlt man sich unwohl, aber langsam macht man sich nur lustig darüber. Mein größter Wunsch ist, dass der Krieg mit einem Sieg der Ukraine endet und ich meine Fachkolleg:innen, meine Freunde und meine Unterstützer aus Deutschland zu einer gemeinsamen Fachtagung oder zu einem einfachen Aufenthalt nach Lwiw einladen kann.

Stand: Januar 2024.